Die Schepenese-Mumie in der Stiftsbibliothek St. Gallen.
Schweiz

«Schepenese würde bei einer Rückführung nach Ägypten wohl in irgendeinem Magazin verschwinden»

Der Wirbel um die berühmteste Mumie in der Schweiz ist gross. Nachdem Theaterregisseur Milo Rau publicitywirksam eine Rückführung von Schepenese nach Ägypten gefordert hat, äussert sich nun Renate Siegmann. Die 86-Jährige hat vor Jahren Inschriften und Bilder auf den Särgen der St. Galler Mumie wissenschaftlich bearbeitet. Ihre Meinung ist klar.

Wolfgang Holz

Seit 200 Jahren liegt die Mumie von Schepenese in den Räumen der St. Galler Stiftsbibliothek und wird dem Publikum gezeigt. Der Doppelsarg und die Mumie gelangten 1820 als eines der ersten ägyptischen Kulturgüter in die Schweiz. Sie wurden dem damaligen St. Galler Landammann Karl-Müller von Friedberg von seinem in Alexandria wohnhaften Schulfreund Philipp Roux zugeschickt.

Die Zürcher Ägyptologin Renate Siegmann (86).
Die Zürcher Ägyptologin Renate Siegmann (86).

«Ägyptomaniewelle»

«In der Schweiz gab es zu dieser Zeit keine ägyptischen Museen, wie sie überall in Europa als Reaktion auf die erste Ägyptomaniewelle im Entstehen waren», sagt Renate Siegmann. Die Geschenke, meist Särge mit oder ohne Mumien von in Ägypten ansässigen Schweizern, gelangten in die Regionalmuseen ihrer Heimatkantone.

Das Sargensemble mit der Mumie der Schepenese wurde vorläufig der St. Galler Stiftsbibliothek leihweise überlassen, erzählt Renate Siegmann. Es existierten damals noch keine Gesetze über die Ausfuhr von Antiquitäten aus Ägypten.

«Heute lässt sich nicht mehr ermitteln, wann und unter welchen Umständen Schepenese aus ihrem Grab in der Nekropole von Theben-West, gegenüber dem heutigen Luxor, entwendet wurde», sagt Renate Siegmann gegenüber kath.ch.

1996 erster Kontakt mit Priestertochter

Die deutsche Ägyptologin hatte ihren ersten Kontakt zu Schepenese 1996 nach einer Anfrage der Stiftsbibliothek zu einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung des ägyptischen Kulturerbes und damit der Geschichte dieser Priesterstochter.

Die Mumie Schepenese und ihre Sakrophage – in der St. Galler Stiftsbibliothek.
Die Mumie Schepenese und ihre Sakrophage – in der St. Galler Stiftsbibliothek.

«Im kalten Bibliothekssaal in St. Gallen und später im Lesesaal habe ich die Inschriften abgeschrieben, übersetzt und interpretiert», sagt Siegmann. In Zusammenarbeit mit der ETH Zürich sei die Holzart der Särge und deren Alter bestimmt worden. Danach wurde die Mumie in der Universitätsklinik Balgrist in Zürich von einer Arbeitsgruppe für klinische Paläopathologie geröntgt und in den Computertomografen geschoben.

Särge als Informationsquellen

Die meisten Informationen über das Leben einer Person gebe nicht der balsamierte Körper frei, sondern der Sarg, erklärt die Ägyptologin Siegmann, die 1998 ein viel beachtetes und preisgekröntes Buch über Schepenese geschrieben hat. «Auf den Särgen, einem Innen- und einem Aussensarg, die den Körper im Grab für die Ewigkeit erhalten sollten, befinden sich viele Informationen über die Person der Schepenese.» Die beiden Särge umgeben heute die Mumie in ihrem Glassarg.

«Wir wissen, was Schepenese sich im Jenseits wünscht: materielle Güter und den ungestörten Verbleib in der Ewigkeit.»

Renate Siegmann, Ägyptologin

Die wohl etwa 30 Jahre junge Frau, Tochter eines Amun-Priesters im Tempel von Karnak (heutiger Name), hiess ursprünglich Shep-en-Isis – was zu Schepenese umgewandelt wurde, so Siegmann. Sie wird als «Herrin des Hauses» bezeichnet, war also verheiratet. Der Sarg nennt die Namen von Vater, Mutter und Grossvater.

Arbeitete und übersetzte 1996 Schriften an den Särgen der Schepenese-Mumie: Renate Siegmann.
Arbeitete und übersetzte 1996 Schriften an den Särgen der Schepenese-Mumie: Renate Siegmann.

«Wir wissen, dass Schepenese in der Nekropole von Theben-West bestattet werden wollte. Auf dem Sarg ist auch zu lesen, was Schepenese sich im Jenseits wünscht: materielle Güter und den ungestörten Verbleib in der Ewigkeit», sagt die Ägyptologin.

Wider die Tradition der Totenkultur?

So weit, so schön. Doch entspricht die Art und Weise, wie Schepenese in St. Gallen gezeigt wird, der Tradition der ägyptischen Totenkultur?

Die Karre für die Schepenese-Mumie Richtung Ägypten stand schon bereit – daneben eine Priesterin.
Die Karre für die Schepenese-Mumie Richtung Ägypten stand schon bereit – daneben eine Priesterin.

Milo Rau hatte bekanntlich bei der Verleihung des St. Galler Kulturpreises mächtig Kritik geübt. Schepenese sei nackt. Die Mumie nicht verhüllt. Man müsse sie als Kulturgut angesichts des Tatbestands der Grabplünderung zurückführen nach Ägypten – was inzwischen aufgrund des öffentlichen Aufruhrs auch von der Stiftsbibliothek St. Gallen in Betracht gezogen worden ist.

Noch keine internationalen Regeln

Doch Renate Siegmann hält dies für «vorauseilenden Gehorsam». Für einen Schnellschuss der St. Galler Behörden. «Ob man eine ägyptische Mumie so zeigen darf wie die der Schepenese – darüber muss man diskutieren.» Dafür gebe es noch keine eindeutigen internationalen Regeln.

Sagt’s und schlägt vor, ein Symposium über diese Frage zu organisieren. eine Diskussion mit Expertinnen und Experten aus allen möglichen Fachgebieten.

«Schepenese hat längst ihre Heimat in der Schweiz und St. Gallen gefunden.»

Renate Siegmann

Ein anderer Aspekt erscheint ihr aber noch viel wichtiger. «Wenn man die Mumie von Schepenese als Kulturgut nach Ägypten zurückführen würde, würde sie dort nach einer Weile in irgendeinem Magazin verschwinden. Zwischen Hunderten von anderen.» Und wäre wohl für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.

Stiftsbibliothek St. Gallen
Stiftsbibliothek St. Gallen

Alle Kulturgüter rückführen?

«Schepenese hat längst ihre Heimat in der Schweiz und St. Gallen gefunden», sagt Siegmann. «Mumie und Särge gehören zur Stiftsbibliothek St. Gallen, sie verbindet unser abendländisches Kulturgut mit dem alten Ägypten, das seit dem Altertum als die Quelle alles Wissens herangezogen wird. Wenn alle Kulturgüter in ihre Heimat zurückgeführt würden, wäre es traurig. Gerade die kulturelle Vielfalt bereichert unsere ganze Welt.»

Renate Siegmann studierte von 1985-1991 nach einem abgeschlossenen Französisch- und Sportstudium das Fach Ägyptologie an der Universität Zürich. Von 1991-2002 übte sie dort auch Lehraufträge aus zu Geschichte und Kultur des alten Ägypten. Von 1994-2020 war sie Gründungsmitglied des Ägyptologie-Forums Zürich, davon 12 Jahre als Präsidentin. 1998 schrieb sie als Co-Autorin das Buch: «Schepenese – die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St. Gallen», Verlag am Klosterhof St. Gallen. Es wurde ausgezeichnet als «eines der schönsten Bücher» im gleichen Jahr.


Die Schepenese-Mumie in der Stiftsbibliothek St. Gallen. | © St. Galler Stiftsbibliothek
14. Dezember 2022 | 17:42
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