Extremismusforscher Dirk Baier (l) und Islamwissenschaftler Reinhard Schulze
Schweiz

Antisemitismus: Welche Rolle spielen Christentum und Islam?

Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel nehmen antisemitisch motivierte Gewalttaten sprunghaft zu. Auch in der Schweiz. Der Extremismusforscher Dirk Baier und der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze gehen im Podcast «Laut + Leis» den Ursachen auf den Grund und sagen, was die Schweiz im Unterschied zu Deutschland und Frankreich besser macht.

Sandra Leis

Der bisherige Höhepunkt der antisemitischen Gewaltspirale in der Schweiz fand Anfang März in Zürich statt: Ein 15-Jähriger, der dem Islamischen Staat Treue geschworen hatte, stach in Zürich einen orthodoxen Juden nieder und verletzte ihn lebensgefährlich. Dieser Terrorakt hat die Schweiz aufgewühlt und international für Schlagzeilen gesorgt.

Die Schweizer Sicherheitsbehörden haben den Anschlag vom 2. März als «Wendepunkt» eingestuft. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze und langjährige Leiter des Instituts für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften an der Universität Bern sagt dazu: «Es ist ein Wendepunkt für die Öffentlichkeit, weil sie jetzt mit dieser Tat konfrontiert wurde.» Doch völlig überraschend sei diese Tat nicht, «denn wir wissen, dass bestimmte Jugendliche antisemitisch sozialisiert worden sind und sich entsprechende Peergroups gebildet haben und weiterhin bilden».

Selbstermächtigung im Internet

Nur: Wie kann ein 15-Jähriger sich so stark radikalisieren? «Mehrere Faktoren spielen eine Rolle – zum Beispiel die Erfahrung der Bedeutungslosigkeit», sagt Dirk Baier. Er ist Kriminologe an der Universität Zürich und leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 

Mahnwache nach dem Terrorakt auf einen orthodoxen Juden Anfang März in Zürich: Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus.
Mahnwache nach dem Terrorakt auf einen orthodoxen Juden Anfang März in Zürich: Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus.

«Der Täter von Zürich ist ein junger Mensch, der nicht weiss, wohin er gehört, der nicht gut akzeptiert ist und sich dann im digitalen Raum Gruppierungen anschliesst, die ihm Halt geben.» Und Reinhard Schulze ergänzt: «Diese Ersatz-Öffentlichkeit im Internet spielt eine ganz grosse Rolle, weil sie das Gefühl einer Selbstermächtigung ermöglicht.» Der junge Mann habe vielleicht geglaubt, dass er seine Bedeutungslosigkeit durch seine Präsenz im Internet aufheben könne. 

Nicht mehr Antisemitismus, aber mehr Taten

Antisemitismus gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Lagern. Doch seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober auf Israel nehmen antisemitisch motivierte Gewaltakte sprunghaft zu. Auch in der Schweiz, wie die Zahlen der Meldestelle des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) zeigen: Allein in den ersten drei Wochen nach dem Anschlag gab es viermal so viele Vorfälle wie sonst.

Extremismusforscher Dirk Baier: «Hass, Abwertung und Hetze sind keine Meinung und dürfen nicht als Meinungsfreiheit toleriert werden.»
Extremismusforscher Dirk Baier: «Hass, Abwertung und Hetze sind keine Meinung und dürfen nicht als Meinungsfreiheit toleriert werden.»

«Dieser Sprung der Zahlen hat alle überrascht», sagt Baier. Doch er sei gut erklärbar: «Gestiegen ist die Bereitschaft von Antisemiten, ihren Antisemitismus zu äussern und bis zur Tat zu gehen.» Aus Studien sei bekannt, dass etwa zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung antisemitische Stereotype verinnerlicht hat. «Ich gehe nicht davon aus, dass das mehr geworden sind seit dem 7. Oktober», so Baier. 

Muslimische Jugendliche mit höherem Risiko

Studien zur Frage, wo christliche und muslimische Jugendliche in der Schweiz punkto Antisemitismus stehen, gibt es kaum. Die jüngste Studie stammt aus dem Jahr 2021. Durchgeführt haben sie Dirk Baier und weitere Wissenschaftler. 

Sein Fazit: «Wir haben festgestellt, dass bei christlichen Jugendlichen etwa sechs Prozent antisemitischen Stereotypen zustimmen und bei muslimischen Jugendlichen 18 Prozent. Das heisst, es gibt unter Muslimen ein deutlich höheres Antisemitismus-Risiko.» Gleichzeitig betont Baier: «Das heisst auch, über achtzig Prozent der muslimischen Jugendlichen sind nicht antisemitisch.»

Restrisiko bleibt

Die Wahrscheinlichkeit, dass Muslime in der Schweiz schwere Gewalt ausüben, sei «gerundet null», sagt Baier. «Doch eine einzelne Person, die sich in einer schwierigen Situation befindet, kann ausreichen, um einen tödlichen Anschlag zu begehen. Das ist das Restrisiko, das wir in einer freiheitlichen Gesellschaft haben.» 

Anzeige ↓ Anzeige ↑

Es gebe auch das Risiko, dass ein Christ aus irgendwelchen Gründen zur Waffe greift und einen Amoklauf verübt. Doch Baier sagt auch: «Wenn wir bei Angriffen auf Jüdinnen und Juden nach der Täterschaft schauen und das gilt auch für Deutschland, sehen wir hauptsächlich Personen, die sich zum Islam bekennen.»

Gute Integration in der Schweiz

Sowohl Baier als auch Schulze sind der Meinung, dass Muslime und Musliminnen in der Schweiz besser integriert sind als in Deutschland und Frankreich. Schulze erklärt das so: «Für Menschen, die in die Schweiz kommen, ist das Angebot sehr viel grösser, sich mit dem sozialen Raum zu identifizieren.» 

Islamwissenschaftler Reinhard Schulze: «Ziel sollte es sein, dem Antisemitismus den religiösen Stecker zu ziehen.»
Islamwissenschaftler Reinhard Schulze: «Ziel sollte es sein, dem Antisemitismus den religiösen Stecker zu ziehen.»

Das habe mit der schweizerischen Kultur und Kleinräumigkeit zu tun. «Die Gemeinde stellt hier das entscheidende soziale Handlungsfeld dar. Das ermöglicht eine einfachere Integration als in den grossen Metropolen wie Berlin, Paris oder Brüssel, wo es viele isolierte Verhältnisse gibt.»

Drei Faktoren für die Prävention

Gleichwohl tut Prävention auch in der Schweiz not. Baier zitiert das berühmte afrikanische Sprichwort, nach dem es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Er nennt drei Faktoren, die für die Prävention wichtig sind: Erstens sei es wichtig, dass Eltern mit den Jugendlichen im Gespräch bleiben, auch wenn diese sich in der Pubertät zurückziehen und abgrenzen. 

Verantwortung tragen auch die Betreiber der Social-Media-Plattformen.
Verantwortung tragen auch die Betreiber der Social-Media-Plattformen.

Zweitens trügen die Betreiber der Plattformen eine Verantwortung. «Hass, Abwertung und Hetze sind keine Meinung und dürfen nicht als Meinungsfreiheit toleriert werden.» Und drittens seien alle Akteure wichtig, die mit jungen Menschen arbeiten. «Schulen, Vereine und religiöse Vereinigungen müssen dranbleiben und den Jugendlichen Medienkompetenz beibringen.»

Religiöser Antisemitismus als Fehlleistung

Reinhard Schulze sagt im Podcast «Laut + Leis»: «Ziel sollte es sein, dem Antisemitismus den religiösen Stecker zu ziehen. Wir müssen erkennen, dass die religiöse Geschichte des Antisemitismus im Christentum und im Islam eine Fehlleistung der Religionen war.» Wobei es zu beachten gelte, dass der christliche Antisemitismus viele Jahrhunderte alt sei, der islamische im engeren Sinne erst 1948 mit der Gründung des Staates Israel begonnen habe.

Religiöse Bildung ist zentral: Imam Rehan Neziri unterrichtet muslimische Schüler:innen einer vierten Klasse in Kreuzlingen.
Religiöse Bildung ist zentral: Imam Rehan Neziri unterrichtet muslimische Schüler:innen einer vierten Klasse in Kreuzlingen.

In der christlichen Geschichte sei der Aufarbeitungsprozess weit fortgeschritten; der islamischen Geschichte stehe dieser Prozess nun bevor. «Dazu braucht es Bildungsvermittlung. Das heisst, hier müssen Gesellschaft und Staat helfen, dass die muslimischen Gemeinden über die Ressourcen einer religiösen Bildung verfügen, die in der Lage ist, den antisemitischen Gebrauch der Religion abzuwehren.»


Extremismusforscher Dirk Baier (l) und Islamwissenschaftler Reinhard Schulze | © Sandra Leis
10. Mai 2024 | 09:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!