Annalena Müller
Kommentar

Am Ende der Geduld: Reformstau, Missbrauch, Kirchenexodus

Die Menschen treten nicht aus der Kirche aus, um Steuern zu sparen. Sie gehen, weil sie das Vertrauen in die Reformversprechen verloren haben. Der Exodus von Katholikinnen und Katholiken im Kanton Zürich ist «ein Zeichen von Verzweiflung», schreibt Annalena Müller in ihrem Kommentar.

Annalena Müller

Im Kirchenumfeld möchten einige noch immer glauben: «Die Menschen nutzen die Missbrauchskrise als Vorwand zum Austritt. Sie wollen Steuern sparen». Die heute veröffentlichen Zahlen zeigen einmal mehr, solche Ideen sind vor allem eins: Realitätsverweigerung.

Kirchentreue Jahrgänge

Was selbst standhaften Realitätsverweigerern zu denken geben sollte: Die zweitgrösste Gruppe der Ausgetretenen sind «Frauen (1511) und Männer (1313) über 60 Jahre».

Gelten als kirchentreu: Personen im Alter von 60 plus.
Gelten als kirchentreu: Personen im Alter von 60 plus.

Diese Generation gilt gemeinhin als kirchentreu. Spätestens der Exodus dieser Generation sollte uns klar machen, wie tief der Vertrauensverlust ist. Und wie sehr die Geduld der Menschen am Ende ist.

Reformstau

Der Kommunikationsbeauftragte Simon Spengler bestätigt: «Tatsächlich treten in den letzten zwei, drei Jahren zunehmend mehr Menschen in dieser Altersgruppe aus. Darunter auch Personen, die sich über Jahre in der Kirche engagiert hatten.»

Simon Spengler von der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.
Simon Spengler von der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.

Dass vielen Austretenden die Kirche nicht egal ist, zeigen die Rückmeldungen, die über 1000 Zürcher Ex-Katholiken und Ex-Katholikinnen ihrer Austrittserklärung beigefügt haben. Die genannten Gründe für den Austritt: Missbrauch, Frauen, Zölibat, Umgang mit Homosexuellen.

Glaube an Reformbereitschaft verloren

Keines der Themen ist neu. Seit bald zwei Jahrzehnten begegnet die katholische Kirche ihrem Missbrauchsproblem mit vielen Worte und wenig Taten. Zu den Themen Frauendiakonat, Zölibat und Inklusion sind die Diskussionen jünger, aber die konkreten Schritte sind ähnlich überschaubar.

Aus Worten müssen Taten werden. Weltysnode in Rom.
Aus Worten müssen Taten werden. Weltysnode in Rom.

Das Resultat: Viele Menschen haben den Glauben verloren. Nicht an Gott. Nicht an die Botschaft des Evangeliums. Sondern an die Reformbereitschaft der Kirche. Ihr Weggang ist daher auch ein Zeichen der Selbstermächtigung.

Hört die Signale

Beim Schreiben dieses Kommentars kommt mir ein Lied in Erinnerung, mit dessen Text ich früher die Lehrer meiner katholischen Schule provoziert habe. Leicht umgedichtet passt es zur Situation der Kirche nicht nur in Zürich:

«Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun! Leeres Wort: des Armen Rechte, leeres Wort: des Reichen Pflicht! Unmündig denkt man uns und Knechte, die Gläubigen dulden dies nun länger nicht.»

Ich wünsche mir, dass die Signale gehört und zu Taten werden. Ein Exodus geschieht nicht aus Indifferenz. Er ist immer ein Zeichen der Verzweiflung.


Annalena Müller | © Mattia Vacca
15. Februar 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 2 Min.
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