Thomas Söding ist Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Kommentar

Thomas Söding: Kurt Koch verwechselt den Zeitgeist mit den Zeichen der Zeit

In einer Erklärung bittet der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch um Entschuldigung für seine umstrittenen Äusserungen zum Synodalen Weg. Der Neutestamentler Thomas Söding ist von Kochs Erklärung wenig überzeugt. Ein Gastkommentar.

Thomas Söding*

Kurt Koch schreibt in seiner Erklärung: «Es war in keiner Weise meine Absicht, jemanden zu verletzen.» Mich hat er nicht «verletzt», weil der Vergleich mit den «Deutschen Christen» absurd ist. 

Kochs Auslassungen bleiben eine Entgleisung

Nazi-Theologie – die «Deutschen Christen» waren brutale Judenfeinde in der evangelischen Kirche – hat es auch in der katholischen Theologie in Deutschland gegeben: nationalistisch, rassistisch und antisemitisch, stets mit dem «Argument» der «Inkulturation», das pervertiert wurde. Wie immer man den Synodalen Weg kritisieren mag: Die Auslassungen von Kardinal Kurt Koch bleiben eine Entgleisung.

Kardinäle unter sich: Rainer Maria Woelki (rechts) im Gespräch mit Kurt Koch im August 2022.
Kardinäle unter sich: Rainer Maria Woelki (rechts) im Gespräch mit Kurt Koch im August 2022.

Mein Punkt ist aber: Kurt Koch hat nicht wahrgenommen, wie wir auf dem Synodalen Weg von den «Zeichen der Zeit» sprechen, und unterstellt uns eine Anpassung an den sogenannten »Zeitgeist», ohne zu sehen, wie zeitkritisch wir uns aufstellen.

Die Kirche lernt auch von der Medizin und der Psychologie

Der Kardinal darf sich einer Fortentwicklung der Lehre nicht verweigern. Kirche lernt aber nicht nur von sich selbst. Sie lernt von einer demokratischen Gesellschaft, was Partizipation heisst – und hätte es längst aus der Heiligen Schrift und der Tradition wissen können. 

Georg Bätzing und Kurt Koch bei der Ökumenischen Vollversammlung in Karlsruhe, 2022.
Georg Bätzing und Kurt Koch bei der Ökumenischen Vollversammlung in Karlsruhe, 2022.

Und Kirche lernt von der Medizin, der Psychologie, was Menschsein und Sexualität ausmacht – und ist sehr spät dran mit den Lektionen. Johannes XXIII. hat so gedacht – an ihn knüpft der «Orientierungstext», auf den Kardinal Kurt Koch in der «Tagespost» reagiert

Orte der theologischen Erkenntnis

Der Text heisst: «Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung». Er beschreibt die theologischen Grundlagen des Synodalen Weges. Dort werden die «Orte» benannt und miteinander verbunden, an denen theologische Erkenntnisse gewonnen werden können. 

Der aus St. Gallen stammende Kirchenhistoriker Franz-Xaver Bischof spricht beim Synodalen Weg in Frankfurt.
Der aus St. Gallen stammende Kirchenhistoriker Franz-Xaver Bischof spricht beim Synodalen Weg in Frankfurt.

Dies sind grundlegend die Bibel (»Schrift») und ihr zugeordnet diejenige kirchliche Überlieferung (»Tradition»), die jenseits von Traditionalismen die befreiende Wahrheit des Evangeliums von Generation zu Generation weitergibt. Auch im Orientierungstext des Synodalen Weges ist beides grundlegend. 

Der «Glaubenssinn des Volkes Gottes»

Dann werden genannt: die «Zeichen der Zeit» und der «Glaubenssinn des Volkes Gottes». Über den «Glaubenssinn» hat die Internationale Theologische Kommission gearbeitet, als ich dort Mitglied war. Gemeint ist nicht nur die Mehrheitsmeinung eines Landes, sondern der geglaubte Glaube im ganzen Volk Gottes. Den festzustellen, geht nicht mechanisch, aber wenn das Lehramt und die Theologie den Finger am Puls der Zeit hat, kann er deutlich werden. 

Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.
Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.

Wir haben allerdings noch viel zu wenig Orte in der katholischen Kirche, wo dieser Glaube sich artikuliert. Synoden können die wichtigsten Orte sein – wenn dort die Bischöfe nicht nur unter sich bleiben. 

Im Licht des Glaubens und der Vernunft prüfen

Die Pointe: Der Glaubenssinn des Gottesvolkes besteht nicht darin, Ja und Amen zu sagen, wie es in traditionalistischen Kreis gedacht wird. Das Gottesvolk hat vielmehr einen «Spürsinn» (Papst Franziskus). Dem zugeordnet sind die «Zeichen der Zeit». Denn der Dialog mit den Wissenschaften ist ebenso wichtig wie der Dialog mit der Kultur, den ökologischen und den sozialen Bewegungen. Hier ist die katholische Theologie bislang nicht eindeutig genug. 

Synodaler Prozess: Papst Franziskus will zuhören.
Synodaler Prozess: Papst Franziskus will zuhören.

Der Orientierungstext schafft Klarheit: nicht alles, was irgendwie aktuell ist, ist ein Zeitzeichen, das zum Glauben führt, sondern das, was im Licht des Glaubens und der Vernunft geprüft wird und auf das Geheimnis des lebendigen Gottes verweist. Aktuell ist vor allem wichtig, das christliche Menschenbild im Dialog mit den Humanwissenschaften weiterzuentwickeln.

Das Lehramt ist keine Zensurbehörde

Schliesslich kommen das «Lehramt» (der Bischöfe) und die Theologie im Orientierungstext zur Sprache. Der Synodale Weg hat Kritiker, weil das Lehramt nicht als Zensurbehörde gesehen wird, die die Theologie massregelt, sondern als lernendes Organ, das den Menschen verpflichtet ist, also dem Glaubenssinn des Volkes Gottes. Die Theologie kann auch immer in Alternativen denken, hat aber kein Lehramt wie die Bischöfe inne.

Papst Franziskus und der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Luis Ladaria.
Papst Franziskus und der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Luis Ladaria.

In der Kontroverse spielen auch Offenbarungsquellen eine Rolle. Offenbarungsquellen, nach denen der Kardinal fragt, sind ein Begriff, der eher zu einem instruktionstheoretischen Offenbarungsmodell gehört als zu einem kommunikativen, personalen und ekklesialen, das sich aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil ableiten lässt. 

Verweis auf «Gaudium et Spes»

Deshalb vermeidet der Orientierungstext den Begriff und zitiert sozusagen nur ab und an, was sich im Fachjargon eingebürgert hat, um die angemessenen Kategorien zu entwickeln, zum Beispiel «Zeugnis». Das ist dann immer der menschliche, der soziale, der kulturelle Vermittlungsfaktor dabei.  

"Dei verbum" ist eine der vier Konstitutionen des Zweiten Vatikanischen Konzils.
"Dei verbum" ist eine der vier Konstitutionen des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Gottes Geist wirkt nicht nur in der Kirche, sondern auch in der «Welt», um es biblisch zu sagen. Sie ist ja Gottes Schöpfung, in der Gottes Geist wirkt, nicht nur in dem, was wir «Natur», sondern auch in dem, was wir «Kultur» nennen. Dies zu wissen, ist das Erbe der biblischen Weisheitstheologie. Ausgerechnet die moderne Theologie hat sich weitgehend verweigert. «Gaudium et Spes» hat die Ebene neu eingeholt, war allerdings noch nicht ganz klar in der Terminologie. Wir arbeiten im Orientierungstext – erstmals in einem kirchlichen Text – diese Differenzierung präzise heraus.

Kein relevantes Zeitphänomen wird ungeprüft adaptiert

Der Orientierungstext ist konkret und nennt Beispiele – jene, die Papst Johannes XXIII. genannt hat: die Frauen- und die Arbeiterbewegung, auch die internationale Friedenspolitik. Ich füge an: Was ist mit den Menschenrechten? Was mit der medizinischen, biologischen, psychologischen Forschung rund um die menschliche Sexualität? 

Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.
Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.

Wie der Orientierungstext sagt: Kein relevantes Zeitphänomen wird ungeprüft adaptiert, sondern jedes wird im Licht des Glaubens, der nicht starr ist, geprüft. Auch bei der Bibel kann man ja nicht einfach Verse aus dem Zusammenhang zitieren. 

Es gibt kein «Basta», sondern ein Miteinander

Im Kern geht es um zweierlei: ob sich die Kirche im Wesentlichen als Widerspruch zur Welt versteht oder sich in die Welt einbringt, um auch den eigenen Glauben neu zu lernen – und ob die Kirche im Wesentlichen alles Offenbarungswissen für sich selbst reklamiert, das dann von den Bischöfen gehütet werden soll. Oder ob die Kirche stets auf der Suche nach dem je grösseren Gott bleibt, der sich in den Armen, den Marginalisierten, der Vergessenen zeigt. 

Die Pointe des Ganzen: Die katholische Theologie ist nicht starr, sondern dynamisch. Es gibt kein «Basta», sondern ein Miteinander. 

* Thomas Söding (66) ist Professor für Neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum und als Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken auch Vizepräsident des Synodalen Weges in Deutschland.

30.09., 09.40 Uhr: Wir haben den Satz präzisiert: «’Gaudium et Spes’ hat die Ebene neu eingeholt, war allerdings noch nicht ganz klar in der Terminologie.»


Thomas Söding ist Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. | © KNA
30. September 2022 | 09:00
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